Experteninterview zum Thema Bilingualität bei Kindern

Am Mittwoch, den 20. 06. 12 wurden wir von der Studentin Sarah Rottmair (Universität Eichstätt-Ingolstadt) interviewt, die aktuell ein Feature zum Thema „Binationale Ehen- immer mehr Kinder wachsen mehrsprachig auf“ schreibt. Wir wollen diese Informationen gerne mit den Besuchern unserer Homepage teilen.

Frage 1: Wie und wann fängt man am besten mit der mehrsprachigen Erziehung an? Haben Sie Tipps? Was ist dabei besonders wichtig?

Die mehrsprachige Erziehung sollte nach Möglichkeit vom ersten Lebenstag des Kindes an beginnen. Wichtig ist, dass die Eltern in ihrer Muttersprache mit ihrem Kind sprechen, da diese am authentischsten für das Kind ist. Nur dann hat das Kind die Chance, diese Sprachen auch zu lernen. Für die Eltern ist es wichtig, dass bei unterschiedlichen Sprachen (z.B. Mutter Türkin, Vater Italiener) eine gemeinsame „Familiensprache“ gefunden wird.

Dies bedeutet, dass im Einzelkontakt jedes Elternteil seine Muttersprache (Mutter türkisch, Vater italienisch) mit dem Kind spricht, als gemeinsame Sprache zur „Familienunterhaltung“ aber eine „Familiensprache“ festgelegt wird, z.B. türkisch. Meist wird als Familiensprache die Sprache gewählt, die beide Eltern besser beherrschen. Vermieden werden sollten „Mischsprachen“, d.h. dass Sätze in einer Sprache begonnen (z.B. türkisch) und in einer anderen Sprache (z.B. italienisch) beendet werden. Dies führt dazu, dass die Sprachen für das Kind nicht getrennt voneinander zu erkennen und zu erlernen sind und es so zu Sprachentwicklungsproblemen kommen kann.

Frage 2: Welche Probleme können bei der mehrsprachigen Erziehung auftreten? Mit welchen Problemen kommen die Kinder und Eltern zu Ihnen? Wie können Sie dabei helfen?

Häufig stehen Eltern im „Identifikationskonflikt“ mit den Sprachen. Einerseits sind z.B. türkisch oder russisch ihre Muttersprachen, andererseits möchten Sie ihr Kind „fit“ für die Sprache des Landes machen, in dem sie leben (z.B. Deutschland). So sprechen die Eltern nach Möglichkeit deutsch mit ihrem Kind, da sie gut gemeint ihr Kind im Deutschen fördern möchten. Da sie die deutsche Sprache nicht perfekt beherrschen und es auch nicht ihre Muttersprache ist, kommt beim Kind (auch bei sehr kleinen Kindern von 0-12 Monaten) wenig Echtheit und Empathie auf sprachlicher Ebene an. Das Kind spürt, dass die Mutter nicht ihre „eigentliche Herzenssprache“ mit dem Kind spricht.
Dieser Konflikt ist häufig eine wichtige „Mit-Ursache“ für Sprachentwicklungsstörungen bei mehrsprachiger Erziehung. Die Kinder beherrschen ihre Muttersprache(n) nicht richtig und haben keine solide, stabile Sprachbasis auf welcher die deutsche Sprache als weitere, neue Sprache (z.B. bei Kindergartenantritt) aufbauen kann.

Wir Logopäden helfen einerseits indem wir Eltern beraten und aufklären. Wir ermutigen die Eltern in der Muttersprache mit ihrem Kind zu sprechen und erläutern den Eltern, warum dies so wichtig für die Sprachentwicklung ihres Kindes ist. Andererseits finden wird durch eine Befragung der Eltern (Anamnese) und eine sprachliche Befunderhebung (Diagnostik) mit dem Kind heraus, ob eine wirkliche Sprachentwicklungsstörung vorliegt. Wir sprechen nur dann von einer Störung des Spracherwerbs, wenn in BEIDEN Sprachen (Muttersprache und Deutsch) eine Störung vorliegt.

Ist nur die deutsche Sprache gestört, ist Logopädie im Sinne einer Sprachtherapie nicht angebracht. Hier wäre dann Sprachförderung für das Kind in der deutschen Sprache sinnvoll, die jedoch nicht als „therapeutische Heilmittelleistung“ (d.h. auf Rezept vom Arzt verordnet und von der Krankenkasse gezahlt) von Logopäden erbracht wird.

Sprachförderung kann im Kindergartenalltag oder auch in gezielten Sprachförderkursen, wie sie z.B. auch in Kindergärten angeboten werden, erfolgen.

Frage 3: Gibt es eine bestimmte Methode, mit der die Kinder besonders leicht lernen? Wenn ja welche ist das und wie funktioniert Sie?

Das Vorgehen bei sprachlichen Problemen ist bei Kindern mit mehrsprachigem Hintergrund sehr individuell. Es gibt keine Methode, die sinnvoll für den Spracherwerb bei allen Kindern ist. Wichtig ist es von logopädischer Seite her zu diagnostizieren (sowohl bei ein- als auch bei mehrsprachigen Kindern) ob die Grundlagen für eine gesunde Sprachentwicklung geschaffen sind.

Dies sind neben dem Hörvermögen und der gesunden kognitiven, sozial- und emotionalen Entwicklung auch Aspekte der nonverbalen Entwicklung. Es gibt verschiedene Vorstufen, die von einem Kind durchlaufen werden müssen, bevor die eigentlichen, ersten sprachlichen Äußerungen (z.B. „Mama“, „Papa“, „Auto“) erfolgen.

In der Logopädie wird geschaut wie gut diese Vorstufen (z.B. Blickkontakt, Sprachverständnis, grob- und feinmotorische Entwicklung, Spielentwicklung) entwickelt sind. Stellen wir in diesen Bereichen Schwierigkeiten fest, so ist die Förderung auf diesen Basisstufen sinnvoll und notwendig. Bereits ab dem 24. Lebensmonat ist logopädische Förderung und Elternanleitung damit möglich und bei früh erkannten Sprachentwicklungsstörungen sinnvoll.

Kommen die Kinder im 3., 4. oder 5. Lebensjahr findet die Förderung häufig in den Bereichen Wortschatz, Aussprache und Grammatik statt. Hier ist eine sehr intensive Zusammenarbeit mit den Eltern sinnvoll und notwendig. Die Logopädin/ der Logopäde leitet die Eltern an und zeigt ihnen Fördermöglichkeiten in der deutschen Sprache, welche die Eltern dann Zuhause in ihrer/ ihren Muttersprache(n) umsetzen können.

Frage 4: Wie empfehlen Sie eine mehrsprachige Erziehung zu gestalten? (multikulturelle Kindergärten, Einrichtungen, in denen eine andere Sprache gesprochen wird,…)

Im Familiengeschehen sind vor allem die oben erwähnten festen Strukturen die Voraussetzung für eine mehrsprachige Erziehung. Das ist immer wieder wichtig zu erwähnen, weil das vielen Eltern und teilweise sogar Pädagogen unbekannt ist. Hierbei steht im Vordergrund natürlich die strikte Sprachentrennung der Eltern. Wichtig ist dabei aber, dass die Eltern dem Kind sprachlich keinerlei Druck machen.

Das Experimentieren mit der Sprache darf und muss sein, „Fehler machen“ ist erlaubt, solange das Kind von außen die festen Sprachstrukturen erfährt (z. B.: im Kindergarten sprechen alle deutsch mit mir, Mama und Papa sprechen türkisch mit mir). Kinder dürfen also jederzeit in der Sprache antworten, in der sie sich aktuell wohler und sicherer fühlen. Es darf kein Zwang bezüglich einer Sprache aufkommen, dann kann es schnell zu Frustration und Vermeidung gegenüber der Sprache kommen, die das Kind aktiv weniger oder gar nicht spricht.

Wenn Eltern dem Kind ihre eigene Muttersprache näherbringen wollen, hilft es auch, wenn man zum Beispiel das jeweilige Land als Urlaubsziel auswählt und vermehrt Kontakte zu Muttersprachlern sucht. Kindern sollten kulturelle Unterschiede erklärt werden, aber niemals verboten werden!

Die Auswahl des Kindergartens sollte man nicht unbedingt abhängig machen vom Sprachhintergrund. Sowohl Kindergärten mit überwiegend deutschen Kindern als auch multikulturelle Kitas bringen die Kindesentwicklung stark voran. Der Wortschatz der Sprösslinge wächst in den ersten Monaten des Kitaaufenthaltes meist rapide. In Hinblick auf die Schule ist es natürlich förderlich, wenn das Kind so viel Kontakt wie möglich mit der deutschen Sprache erhält. Deshalb spielt der Kindergarten pädagogisch eine wichtige Vorreiterrolle. Aus logopädischer Sicht ist es nachteilig, wenn Kinder die Kita nicht besuchen. Soziale Kontakte und Interaktion sind die Basis für das Hören, Sprechen und damit das „Wachsen von Sprache“.

Frage 5: Wie sind so die aktuellen Entwicklungen? Werden es immer mehr Kinder, die mehrsprachig aufwachsen? Kommen die meisten Kinder damit gut klar? Wie viele von den mehrsprachig aufwachsenden Kindern brauchen professionelle Hilfe?

In Augsburg besteht insgesamt ein recht hoher Migrantenanteil. Wir stellen in der Logopädieabteilung unserer Arbeitsstelle medaktiv reha gmbh fest, dass etwa 70 % unserer jüngsten Patienten einen Migrationshintergrund haben. Aus diesem Grund ist es auch enorm wichtig, sich hinsichtlich der Bilingualität bei Kindern fortzubilden. Auch im Therapiebereich herrschen oft noch veraltete Denkweisen hinsichtlich der mehrsprachigen Kindesentwicklung. Die Annahme „Die Eltern müssen unbedingt deutsch mit dem Kind sprechen!“ ist vollkommen überholt und kann durch zahlreiche Studien widerlegt werden.

Kinder gehen eigentlich immer sehr unbefangen mit ihren Äußerungen um. So ist Ihnen auch zunächst gar nicht bewusst, dass sie mehrere Sprachen sprechen. Erst wenn von ihrer Umwelt Hinweise, Ermahnungen oder gar Korrekturen hinsichtlich eines „schöneren Sprechens“ kommt, kann es zu einem Störungsbewusstsein beim Kind führen, dass jegliche Sprechfreude hemmt. Dies sollte dringend vermieden werden. Eltern können sich hierzu immer Tipps von Fachpersonen geben lassen. Fr. Pohlmann und ich geben unter anderem auch Fortbildungen für Erzieher zur „Förderung von mehrsprachigen Kindern im Kindergartenalltag“, so dass diese auch die Elternberatungen hinsichtlich dieses wichtigen Themas nach den aktuellen Erkenntnissen fachgerecht führen können.

Insgesamt geht der Trend aber immer mehr in Richtung „Meine Kinder sollen so viele Sprachen wie möglich beherrschen. Das gehört zu einer guten Bildung.“ Wir haben es schon erlebt, dass ein deutsches Ehepaar seinem Kind die „Businesssprache Englisch“ von Geburt an beibringen wollte, obwohl diese keine Muttersprachler waren. Das kann sogar richtig gefährlich werden für die Eltern-Kind-Beziehung! Kinder merken oft sehr schnell, ob ein Verhalten „ehrlich“ und kongruent ist . Wenn deutschsprachige Eltern ihr Kind zum Beispiel auf Englisch trösten wollen, wirkt das vollkommen unauthentisch auf die Kinder.

Frage 6: Haben sie noch einen besonderen Aspekt, den Sie gerne erläutern würden?

Heute weiß man: Mehrsprachigkeit stellt NIE eine Überforderung dar. Auch minderbegabte Kinder können von einer mehrsprachigen Entwicklung profitieren. Bilinguale Kinder können sogar meist flexibler und abstrakter denken und haben somit gegenüber den einsprachig Aufwachsenden deutlich Vorteile.

Anne-Marie Lohr & Mareike Plath